Aus dem Alltag einer Übersetzerin (Teil 1)

(Ein Gastbeitrag von Jery Schober.)

»Wenn das Buch gut ist, liegt es am Autor, wenn es schlecht ist, am Übersetzer.«

Eine Variation dieses Satzes lese und höre ich beinahe täglich. Anfangs hat es mich gekränkt, wenn Plotelemente und Wortwiederholungen, die vom Autor so vorgegeben wurden, meiner Übersetzung angekreidet wurden. Mittlerweile denke ich mir, aus einem Ackergaul kannst du einfach kein Rennpferd machen, ich und die Lektorin haben das Beste aus dem Buch herausgeholt. Und ich lese daher nur mehr selten Rezensionen 😉

Mein Brotjob ist literarische Übersetzerin. Ich übe diese Tätigkeit seit 2016 hauptberuflich und selbstständig aus. Was wesentlich mehr Arbeit ist, als sich mein Umfeld denkt. Aber auch wesentlich mehr Spaß macht als jeder andere Job, den ich davor hatte.

Was mache ich also den lieben langen Tag, das es mir nicht erlaubt, einfach mal spontan 3 Tage auf Urlaub zu fahren, ja nicht einmal für 3 Stunden auf einen Kaffee mit einer Freundin zu verschwinden?

Der Großteil meines Arbeitstages geht im Normalfall für das reine Übersetzen des Ausgangstextes drauf. Ich übersetze ausschließlich vom Englischen ins Deutsche, egal ob amerikanisches, britisches, kanadisches oder australisches Englisch.

Die Herkunft der AutorInnen und/oder das Setting der Geschichte beeinflussen bereits in einem großen Ausmaß die Übersetzung. Derselbe Begriff kann in den einzelnen Varietäten des Englischen eine unterschiedliche Bedeutung haben.

Das ist nicht die einzige Recherche, die notwendig ist. Selbst für die als einfach geltenden Liebesromane, die ich meistens vorliegen habe, ist jede Menge Hintergrundarbeit nötig, um Szenen adäquat zu übersetzen. Nur wenn ich die Szene verstehe, kann ich sie richtig im Gesamtkontext übersetzen.

Highlights meiner Recherche für die »anspruchslosen Liebesschnulzen«: Künstliche Befruchtung von Rindern, Schweißtechnik mit Druckgas, Football-Spielzüge, Alkoholentzug, MMA-Kampfregeln, World of Warcraft Charakterklassen, Klavierkompositionen und mehr IT-Fachbegriffe, als mir lieb ist.

Für neue AutorInnen brauche ich 5-10.000 Wörter Einarbeitung. So lange dauert es, bis ich mit dem Stil vertraut bin und ihn flüssig übersetzen kann. Weshalb ich gerne Reihen übersetze, weil dann diese Einarbeitungsphase wegfällt und ich schneller vorankomme. Und natürlich ist das ein sicheres Einkommen, das ich in meiner Planung berücksichtigen kann.

Was die Planung angeht: Ich muss neuen Selfpublishern, die mich direkt beauftragen wollen, fast immer erklären, dass sie die Übersetzung nicht wie von ihnen erwartet in 2 Monaten geliefert bekommen. Ich habe eine Vorlaufzeit von 9-12 Monaten. Wer mich jetzt bucht, dem kann ich einen Termin Ende des nächsten Jahres anbieten.

Ich will und muss Qualität wahren, und das braucht Zeit. Für einen Roman von 100.000 Wörtern brauche ich 2 Monate – 1 Monat fürs Übersetzen, 1 Monat für die Überarbeitung. Natürlich lässt sich dieser Prozess beschleunigen und ich habe so was auch schon in 3 Wochen durchgepeitscht, aber das vermeide ich tunlichst.

Meine Stammkunden wissen mittlerweile, dass ich lange im Voraus plane, und haben teilweise schon im Frühjahr 2018 angefragt, um einen freien Slot im Sommer 2019 zu bekommen.

 

 

Jery Schober arbeitet als literarische Übersetzerin und schreibt völlig unepische Fantasy-Romane, in denen die Protagonisten nicht daran interessiert sind, die Welt zu retten, weil sie genug damit zu tun haben, den nächsten Tag zu erleben.
Auf www.marmorundton.wordpress.com bloggt sie von den Kämpfen und Kompromissen mit ihrer Muse. Ihr findet sie auf Twitter unter Jery Schober auf Twitter und auf Instagram unter Jery Schober auf Instagram.

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Jery Schober sagt:

    Hat dies auf Marmor und Ton – Autoren schreiben mit MUT rebloggt und kommentierte:
    Ich habe auf Michaels Blog aus meinem Arbeitsalltag geplaudert 🙂

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