Die Entwicklung einer Figur

„Sandman“ ist für mich persönlich die herausragende Comic-Serie der letzten 20 Jahre. 75 Hefte lang und über mehrere Sonderausgaben hinweg hat der Engländer Neil Gaiman Geschichten erzählt, wie ich sie bis dahin in Comic-Form noch nicht gekannt hatte. Er nutzte seinen breites Wissen über mythologische Hintergründe, um Götter, Sagengestalten, Märchenfiguren etc. in eine dicht gewobene Geschichte um den Sandman einzuarbeiten, der mit dem Sandmännchen so viel zu tun hat wie ein Hecht mit einem Hering. Selbst Lesern, die mit Comics normalerweise nicht viel am Hut haben, kann ich die Serie uneingeschränkt empfehlen.

Gedankensprung:  In meinem ersten eigenen Science Fiction-Roman mache ich einen intergalaktischen Totengräber zum Helden meiner Handlung. Turil reist durch einen eng begrenzten Weltenraum und vollzieht, wo auch immer man es wünscht, Totenrituale. Darüber hinaus gelten Angehörige seines Volks als unbestechliche Richter und als Informationshändler. Die Totengräber sind in ihrer Gesellschaft starren Konventionen unterworfen und sie müssen sich mit Schiffen auseinandersetzen, die einen beständigen Kampf gegen sie austragen. Turil, mein Held, ist anders als seine Landsleute. Er fühlt es, doch er kann seine Andersartigkeit nicht richtig greifen oder gar bestimmen. Und so beginnt er zu revoltieren, um seinen Platz in dieser seltsamen Gesellschaft zu finden …

Was hat nun Neil Gaiman mit meinem Totengräber zu tun? – Ganz einfach: In einer seiner Sandman-Episoden, genauer gesagt in Heft 55, taucht ein blasser Bursche namens Petrefax auf. Er dient einem Herrn namens Klaproth und arbeitet in einer Nekropole namens Litharge. Er begegnet wundersamen Gestalten und hört faszinierende Geschichten, um in späteren Heften der Serie im Hintergrund aufzutauchen. Später brachte er es in einer Mini-Serie von Mike Carey sogar zum Titelhelden …

Petrefax war ohne Zweifel jene Figur, die mich bei der Entwicklung von Turil am stärksten beeinflußte. Wohlgemerkt: Ich habe nicht abgekupfert, sondern ich habe mich inspirieren lassen. Er war für mich Ausgangspunkt heftigster Gedankenarbeit. Was für einen Platz könnte ein Totengräber in einer fernen Zukunft einnehmen? Wie würde es ihm gelingen, in einer Machtposition zu bestehen? Wie kann man Rituale, Gebräuche und Sitten, die heute angewendet werden, extrapolieren und in möglichst exotischer Weise darstellen? Was wird der Tod einmal für eine Bedeutung haben, wie werden Menschen und Angehörige anderer Völker damit umgehen?

Diese Fragen werden in meinem Buch „Turils Reise“ gerade mal angeschnitten – aber sie waren stetig in meinem Kopf, während ich an dem Manuskript arbeitete. Als gelerntem Wiener machte es mir riesigen Spaß, über Gevatter Tod zu recherchieren und von überallher Ungewöhnliches zu dem Thema zu beschaffen. Ich beschäftigte mich mit Totentänzen,  mit Unterschieden, wie verschiedene Völker und Kulturen den Tod erleben und hinnehmen, mit mythischen Gestalten, die den Tod repräsentieren, mit den Ängsten, die dahinterstecken. Selbst die Assoziation, daß Schwärze für die ewige Ruhe steht und Turil als Totengräber beständig durchs dunkle Weltall reist, spielte bei meinen Überlegungen eine Rolle.

Diese Gedanken fanden nie in einem Exposé Platz. Ich hatte sie in mir drin abgespeichert. Doch sie waren immens wichtig, wie ich erst vor kurzem beim nochmaligen Durchblättern meines Buchs erstaunt feststellte. Und es war nicht Petrefax, dem ich begegnete, sondern Turil. Ich hatte die Idee, die Ahnung einer Idee, die ich bei Neil Gaiman entdeckt hatte, zu etwas völlig Selbständigem geformt, zu meiner Figur, und darauf bin ich schon ein bißl stolz …

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