Es waren völlig unterschiedliche Welten, die da aufeinander prallten. Hie mein Großvater, noch im 19. Jahrhundert geboren, ein Patriarch, der sich in der Selbständigkeit als Juwelier und Bijouterist einen guten Namen in Wien gemacht hatte. Der das Pech gehabt hatte, in beiden Weltkriegen eingezogen worden zu sein. Der mit weit über achtzig Jahren immer noch tagtäglich im Geschäft stand und es leitete.
Auf der anderen Seite ich. Neunzehn Jahre jung, unbeschwert, frei von den meisten Sorgen. Die Matura bzw. das Abitur spielte eine Rolle, aber keine besonders große. Die Zukunft lag vor mir, ich war gierig auf das, was kommen würde, gierig nach Leben.
Viel Zeit spielte sich am Fußballplatz ab, auf den Rängen im Westsektor des Weststadions bzw. Hanappi-Stadions. Rapid würde in diesem Jahr Meister werden, das erste Mal nach vierzehn Jahren, was ich zu dieser Zeit noch nicht wissen konnte.
Meine Begeisterung für die Mannschaft kannte keine Grenzen. Heim- oder Auswärtsspiele, ich war fast immer mit dabei. Die Zeiten als Fan waren nicht besonders gut. Überall war Aggression, auf Seiten der Zuschauer wie auch der der Polizei. Ich dampfte vor Testosteron und ich war, um es ehrlich zu sagen, einige Male mittendrin statt nur dabei, wenn es zu Auseinandersetzungen kam.
Und dann war da dieser Besuch im Geschäft meines Großvaters.
Er war ein kleingewachsener Mann, er reichte mir gerade mal bis zum Kinn, und dennoch erheischte er Respekt. Er repräsentierte „das Alte“. Etwas, das man zu achten hatte.
Er konnte im Beruf und im Privaten ungeduldig sein, die geschäftlichen Sorgen drückten ihn oft und oft. Doch er hatte auch seine netten und weltoffenen Seiten. Und er war stolz auf mich; ich würde das erste Mitglied der Familie mit Matura/Abitur sein.
Er kam auf mich zu, ungewöhnlich freundlich und milde gestimmt, und frug mich nach der Begrüßung, ob ich ihn mal auf ein Rapid-Match mitnehmen würde.
Ich wußte, daß er bloß oberflächliches Interesse am Fußball hatte. Es war mir bereits damals klar, daß es ihm keinesfalls ums Spiel ging, sondern darum, mit mir etwas zu unternehmen, zu teilen. Das erste Mal überhaupt. Vielleicht wollte er mir eine Freude bereiten, vielleicht lange Aufgeschobenes nachholen und eine persönliche Bindung zu mir aufbauen.
Ich sagte: „Ja, gerne, bald einmal“ – und wußte ganz genau, daß ich mein Versprechen niemals einhalten würde. Was sollte ich mit einem alten Knacker meine Zeit auf einer der langweiligen Sitztribünen verbringen und nicht dort, im Westsektor, wo ich mich wohl fühlte, wo ich mich austoben konnte und ich unter Gleichgesinnten war?
In den nächsten Wochen und Monaten frug er immer wieder mal nach „unserem“ Besuch im Weststadion, ich vertröstete ihn mehrmals und dann war er auf einmal tot. Gestorben bei der Arbeit, durch die Arbeit, im 84. Lebensjahr. Und ich, ich kapierte mit einem Mal, daß ich niemals mehr wieder die Gelegenheit bekommen würde, eine alleinige Erinnerung mit diesem alten Mann zu teilen.
Es hat eine Bedeutung, daß ich immer wieder mal an diese Lebensepisode denken muß. Sie ist vermutlich das Prägendste, was mir von meinem Großvater geblieben ist – und das fühlt sich manchmal ganz schön beschissen an.
Kann ich gut nachfühlen. An meinen viel zu früh verstorbenen Vater hab ich auch eine prägende negative Erinnerung, die ihm überhaupt nicht gerecht wird (weil ich für das Negative darin verantwortlich bin). Allerdings gibt es glücklicherweise auch viele andere positive Erinnerungen.