Die Entkoppelung – und warum ich nach Scheibenwischern suche

am

Es gibt da ein Problem unserer Zeit, das leider, leider auf meine Schreibarbeit überschlägt. Dieses Problem nenne ich mal die Entkoppelung. Ich meine damit ein fortschreitendes Nichtverstehen der Dinge, mit denen wir uns umgeben.

Um diese Entkoppelung anhand einiger Beispiele zu erklären:

  •  Viele technische Probleme an einem Auto konnten wir vor einigen Jahrzehnten noch selbst beseitigen. Geht heute nicht mehr, das elektronische Management erlaubt nur noch ganz wenige Eingriffe.
  • Ein Telephon war ein Telephon und in seiner Funktion begreifbar, ein (Röhren)Fernseher oder Radio ebenfalls. Heute sind dies multifunktionale Gerätschaften, digitalisiert und elektronisch gesteuert und kaum mehr mit den ursprünglichen Produkten vergleichbar.
  • Wir fahren mit U-Bahn-Garnituren, die keinen Fahrer mehr haben, Autopiloten übernehmen große Teile der Arbeit in Flugzeugen. Kühlschränke bestellen ihre Inhalte selbständig nach. Haarbürsten, Zahnbürsten und Pulsmesser geben uns vor, wie wir uns zu verhalten haben. Wir passen uns den Vorgaben zur Optimierung unserer Lebensführung an.
  • Es geht bei der Entkoppelung aber nicht nur um die fortschreitende Durchdringung aller Lebensbereiche durch moderne Technologien. Es geht zum Beispiel auch um den Bezug zur Nahrung, die wir zu uns nehmen. Ein Stück Fleisch ist heutzutage ein Produkt der Lebensmittel“industrie“, ein einzeln und steril verpackter Klumpen. Früher war es der Teil eines Tieres, das geschlachtet wurde.
  • Auch der Sex unterliegt einer Entkoppelung. Modelle wie Tinder und generell die Porno-Industrie leben ganz gut von der Suche nach einer schnellen Befriedigung, ohne viel auf die emotionale Seite der Sache Rücksicht zu nehmen.

Ich werde ganz sicher nicht von der „guten, alten Zeit“ anfangen zu reden oder daß „früher alles viel besser“ gewesen wäre. Was ich hier anspreche, ist eine subjektive Wahrnehmung und gewiß ein Generationenproblem. Ich traue mir, ehrlich gesagt, auch gar nicht zu, eine fundierte Meinung zur technischen Beschleunigung abzugeben. Das sollen schlauere Leute als ich machen.

Ich begegne aber den Resultaten der Entkoppelung bei meiner Arbeit immer wieder. Es wird umso komplizierter, je weiter ich mich gedanklich in Richtung Zukunft bewege und darüber nachdenken muß, wie sich die Umwelt nach dem Jahr 5000 nach Christi Geburt anfühlen könnte.
Daß ich mich dabei auf sehr, sehr dünnem Eis bewege, dessen bin ich mir bewußt. Niemand kann vorhersagen, wie ein Leben in dreitausend Jahren ablaufen wird. So wenig, wie ein Bürger Athens 1000 vor Christus gewußt haben kann, wie es ist, im Jahr 2017 zu leben.

Teil meines Brotberufs ist es, den Lesern Erklärungsmodelle zu liefern und ihnen etwas zu geben, das sie verstehen können. Was geschieht in einem Raumschiff und wie fühlt sich das an? Welchen Einfluß kann die Besatzung auf einen Raumer nehmen, der von einem hochintelligenten – und denkenden bzw. fühlenden! – Rechner gelenkt wird? Wozu braucht es Ingenieure, Piloten, Wissenschaftler denn noch? Welche Arbeitsbereiche gibt es zu belegen, wozu sind wir Menschen in einem Umfeld wie diesem gut? Welche Bedeutung hat der Faktor Mensch, wenn eh alle Abläufe vom Computer geregelt werden können, wie bekomme ich ihn in der Handlung unter? Schließlich wollen die Leser tatkräftige Helden, die die Dinge in die Hand nehmen, Identifikationsfiguren.

Deshalb bin ich stets auf der Suche nach „Scheibenwischer“-Funktionen. (Die Anregung zu diesem Vergleich hab ich übrigens im österr. Magazin profil gefunden, in der „autodrom“-Kolumne des Journalisten David Staretz der Ausgabe 2/17).
Denn der Scheibenwischer ist ein völlig abstruser Anachronismus an Fahrzeugen. Das Erstpatent dazu stammt aus dem Jahr 1903, und bis heute ist der Scheibenwischer im Grunde genommen dasselbe – eigentlich primitive – Produkt geblieben. Es geht einfach nicht ohne ihn.
Wenn ich mich nun frage, welchen Job ein Mensch/ein Lebewesen im Jahr 5000 ausübt, dann suche ich nach Scheibenwischer-Funktionen. Solche, die heute und hoffentlich auch noch dreitausend Jahre in der Zukunft notwendig sind. Und ich sage euch, das ist manchmal gar nicht so leicht …

 

 

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. wortschmied sagt:

    Ich glaube, es geht nicht nur darum, die „Scheibenwischer“-Funktionen zu finden, wenn man in die Zukunft extrapoliert, sondern auch die Funktionen/Arbeiten, bei denen die Menschen (hoffentlich) in Zukunft entdecken werden, dass es schlicht dämlich war, sie (aus Bequemlichkeit) Computern zu überlassen. Um beim Beispiel Auto zu bleiben: Es gibt heute Autos, in die kann ich nicht mal mehr einsteigen, wenn der Computer gerade rumspinnt. Weil es keinen Schlüssel und kein Schloß mehr gibt, nur noch einen Funköffner. Da hab ich nun also ein zigtausend Euro teures Atomobil (also nicht ich persönlich, ich hab gar kein Auto) und steh trotzdem im Regen, wenn der Computer nicht will. Funköffner sind ja nett, aber NUR Funköffner sind … dämlich.
    Es geht also auch darum, die – hoffentlich – nicht lineare geschichtliche Entwicklung der Dinge vorrauszusehen. Und ja, das glaube ich sofort, dass das nicht leicht ist 🙂

  2. Früher war zwar nicht alles besser, aber vieles war gut. Und wäre es auch heute noch, wenn man die Finger davon gelassen hätte.
    Das ist übrigens nicht unbedingt eine Generationenfrage. Ich bin ja ein bisschen jünger, aber technisch fühle ich mich schon seit Jahren abgehängt. Ich mach mir auch kaum die Mühe moderne Technik zu verstehen. Aber oft steh ich fasziniert vor den neuen Entwicklungen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s