Sporterinnerungen (1)

Ich habe eben ein Buch mit phantastischem Einschlag beendet, das den Titel Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete trägt. Geschrieben wurde es vom Schweizer Autor Gion Mathias Cavelty. Er verliert sich in einer völlig absurden Geschichte, die eines der bekanntesten österreichischen Ski-Idole in den Mittelpunkt stellt.
Franz Klammer war 1976 Olympiasieger in der Abfahrt. Als ich Caveltys Geschichte gelesen hab, sind Erinnerungen hochgekommen, die ich gerne in einem etwas längeren Beitrag teilen möchte.

Ich werde heuer 55 Jahre alt. Das sind eine ganz schöne Menge Kerzen auf der Geburtstagstorte. Mit zunehmendem Alter summieren sich die Erinnerungen, gute wie schlechte. Manche, die mir in meiner Jugend ungeheuer bedeutend vorgekommen sind, verlieren an Gewicht, während andere, die mich früher bloß ein Achselzucken gekostet haben, deutlicher in den Vordergrund treten. In einigen Fällen sind es solche, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Österreicher gegraben haben, auch und vor allem in sportlicher Hinsicht …

Es war Anfang Feber 1976. An den österreichischen Schulen gab es Semesterferien, die damals, zwei Jahren nach der großen Erdölkrise, noch Energieferien genannt wurden. Mein Vater nahm mich mit nach Innsbruck, zu den Olympischen Winterspielen. Da die Spiele zwölf Tage dauerten, mußte ich leider, leider eine Woche lang Schule schwänzen (und hatte konsequenterweise das erste Mal in meiner Schullaufbahn Nachprüfungen im Herbst. Eine Erfahrung, die ich während der nächsten sechs Jahre noch fünf Mal machen durfte.)
Wir wohnten in einer kleinen Pension in einem Vorort von Innsbruck. Das Verhältnis zu meinem Vater war nicht unkompliziert. Ich sah ihn nach der Scheidung meiner Eltern nur selten, und wenn, dann trat er sehr autoritär auf. Er wollte mich bei diesen raren Gelegenheiten zum „Mann“ erziehen. Ich war in seinen Augen verweichlicht. In Innsbruck hatte ich also gefälligst zu lernen, wie man Karten spielt. Zweierschnapsen. Das gehörte zum Mannsein in seinen Augen dazu, und die Abende waren angefüllt mit vielen, vielen Partien, die ich mit wenig Interesse über mich ergehen ließ. (Ich schnapse übrigens bis heute außerordentlich schlecht.)

Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele hatten wir noch versäumt, doch bereits am ersten Tag der Wettkämpfe stand der Ski-Abfahrtslauf der Männer auf dem Programm. Es gab einen großen Favoriten, den Klammer Franz, der die Weltcup-Rennen davor gewonnen hatte. Mein Vater, so wie Klammer ein Kärntner, vergötterte ihn.
Doch da war dieser Schweizer, der Russi Bernhard. Er war etwas älter und erfahrener. Er fuhr nicht so auf Teufel komm raus wie der Klammer – und er hatte die Erfahrung eines Olympiasiegs in Sapporo (1972) mit im Gepäck.
Mein Vater und ich wollten mit dem Auto zur Abfahrtsstrecke am Patscherkofel, dem Innsbrucker Hausberg. Das Verkehrsaufkommen im Jahr 1976 war noch wesentlich geringer, und dennoch mußten wir kilometerweit gehen, um an vollen Parkplätzen vorbei in die Nähe der Strecke zu gelangen.
Die Zuschauerränge im Ziel waren voll. Unübersehbare Massen an Zusehern hatten sich bereits versammelt. Sie drängelten und schoben, sie feierten und sangen , angeheizt durch Jagatee, der an kleinen Ständen verkauft wurde. Ich hab den alkoholgeschwängerten Geruch heute noch in der Nase, wenn ich an diesen Tag zurückdenke.

Wir fanden letztlich einen halbwegs passablen Platz an der linken Seite des Zielschusses, vielleicht in der zehnten Reihe gedrängt stehender Menschen. Rings um uns fanden sich mehr und mehr Zuseher ein. Ich glaube nicht, daß ich bis dahin eine derart große Menschenmenge gesehen hatte. Waren es 20.000? 50.000? – Ich kann es nicht abschätzen. Auch entlang der Strecke weiter oben am Hang standen unzählige Skisportbegeisterte.
Wir konnten ein Stück von der Strecke einsehen, vielleicht hundert bis hundertfünfzig Meter, und dann noch einen Teil des Zielbereichs. Die Rennfahrer huschten an uns vorüber, einer nach dem anderen. Bernhard Russi fuhr allen weit davon, die Stimmung ringsum war angespannt. In meiner Erinnerung fühle ich immer noch mein Herzklopfen.
Die Finger taten mir weh vom Daumendrücken, als ich über Lautsprecher hörte, daß der Klammer Franz gestartet wäre. Der Sprecher informierte über die Zwischenzeiten. Sie waren stets um ein paar Zehntel schlechter als die vom Russi Bernhard.

Es ist sonderbar, wie innig derartige Erinnerungen mit Empfindungen verbunden sind. Da war die Kälte, die ganz schön in den Zehen biß, nach all den Stunden, die wir uns bereits die Beine in den Körper gestanden hatten. Da war auch Zigarettengestank, der Geruch nach Rum, das Herzklopfen, die Anspannung …
Der Sieg war immens wichtig., das spürte ich mit meinen dreizehn Jahren. Es wäre so schön, wenn gleich zu Beginn der Spiele eine Goldmedaille eingefahren werden könnte, und dann auch noch vom beliebtesten österreichischen Sportler.

Klammer kam dem Ziel immer näher. Die Anzeigetafel konnten wir nicht sehen. Wir mußten uns auf das verlassen, was die Menge im Zielraum weitergab.
Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ein Schrei ertönte, ein Entsetzensschrei, der von der Menge der Zuseher getragen wurde. Er stammte von weiter oben auf der Piste – und er war schneller als der Rennläufer. Klammer hatte die Einfahrt in den Zielhang nicht sonderlich gut erwischt und zauberte auf einem Ski dahin, wie er es so oft in seiner Karriere getan hatte.
Mein Vater und ich konnten das nicht sehen, die Einfahrt war ein Stück zu weit oben für unseren Platz. Aber jetzt, jetzt würden wir ihn gleich zu Gesicht bekommen, wir würden ihn mit Geschrei antreiben, mit Daumendrücken, mit Gebeten, die tausendfach gemurmelt wurden …

Ringsum rissen die Menschen ihre Hände in die Luft. Sie schrien und hoben Schals und Flaggen und Fetzen in Rot-Weiß-Rot in die Höhe. Sie trieben den Klammer Franz ins Ziel.

Ich konnte ihn für den Bruchteil einer Sekunde auf der Strecke sehen. Er huschte vorüber, ein gelber Fleck, vage erkennbar in diesem Wald an Armen, und schwang bald darauf im Ziel ab.
Das Gebrüll wurde laut und lauter, es wurde gejubelt und gefeiert. Klammer hatte Russi um ein paar Zehntel abgefangen.  Der Klammer Franz war Olympiasieger – und ich hatte ihn für mindestens zwei Zehntelsekunden auf der Strecke gesehen.

 

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