Der Schweizer NaNoWriMo

(Gastbeitrag von Eva Waiblinger)

Swiss Wrimos 2Zwanzig Köpfe beugen sich über Laptops, 200 Finger hämmern in die Tasten, Junkfood türmt sich auf dem Tisch, episch-heroischer Soundtrack wummert, über alledem wabert an der LED-Decke galaktischer Nebel, computergesteuert. Es ist November, die Swiss Wrimos sind wieder da. Das Ziel jedes einzelnen: 50.000 Wörter in 30 Tagen zu schreiben.

Auch ich war mehrere Jahre lang eine Wrimo, also Teilnehmerin am National Novel Writing Month. NaNoWriMo, das ist stark vereinfacht eine aufgemotzte Online-Wortzählmaschine mit angehängter Community. Ziel der kostenlosen Teilnahme ist, im November die erste Fassung eines Romans von mindestens 50.000 Wörtern niederzuschreiben. Genau wie 1999, als sich NaNoWriMo-Gründer Chris Baty selbst überlisten wollte, endlich sein Romanprojekt durchzuziehen, und sich dafür eine Zeitlimite von 30 Tagen setzte. Unterdessen ist NaNoWriMo eine Non-Profit-Organisation mit einem Budget von über einer Million Dollar und jährlich weltweit über 400’000 Teilnehmern (CH: 2.353, A: 2.392, D: 18.520 Teilnehmer). Von diesen erreichen jeweils etwa zehn Prozent das Ziel und „gewinnen“ eine virtuelle Medaille zum Teilen.

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Am linken Bildrand: Christian Riesen

Bei NaNoWriMo wird der innere Kritiker für einmal weggesperrt, wahlweise in eine Drachenhöhle oder in die siebeneinhalbte Dimension, dann schreibt jeder drauflos, was das Zeug hält. Für Christian Riesen, einen erfahrenen Schweizer Wrimo, ist NaNoWriMo „Wort-Erbrochenes, rein und unverfälscht: so viele Wörter wie möglich, so schnell ich nur tippen kann.“ Damit wird klar, dass bei NaNoWriMo-Texten einzig die Masse zählt, nicht aber Sprache, Inhalt, Plot.

„Niemand wird je den Text sehen, den ich während NaNoWriMo produziere“, sagt Christian, der dieses Jahr seinen Einstand als zweiter „Municipal Liaison“ der Swiss Wrimos gibt, neben der langjährigen lokalen Organisatorin Sabrina Haslimeier. Er arbeitet bei Liip, einer Schweizer Webagentur, die jeweils im November den Swiss Wrimos ihre Räume in Zürich zur Verfügung stellt. „Ich schreibe (den Text) so chaotisch nieder, wie Prosa und Ideen fließen“, sagt Christian. „Ich weiß, dass ich alles überarbeiten muss. Ich weiß, da sind Wiederholungen, schreckliche Grammatik, Rechtschreibfehler und viele weitere Sünden, die ich später in mehreren Überarbeitungsdurchgängen, ja, mehreren, verstecken muss.“

Was zählt, ist die Abmachung jedes Wrimo mit sich selbst, nämlich durchzuhalten und das Ziel zu erreichen, was auch immer der Alltag ihm an Ablenkung vor die Füße wirft. Gerät ein Wrimo in eine Sackgasse, steht ihm die Community mit Ratschlägen, Foren, Pep-Talks, Write-Ins (also gemeinschaftlichem Schreiben) und mit sozialer Unterstützung zur Seite.

Englisch ist die Verkehrssprache von NaNoWriMo, sowohl auf der Website als auch an den Schweizer Schreibtreffen. Das kann für jemanden ein Problem darstellen, der diese Sprache nicht so gut beherrscht. Bei den Swiss Wrimos würde sich aber sowieso die Frage stellen, in welcher der vier Landessprachen die Schreibtreffen denn abgehalten werden sollen. Außerdem tummeln sich viele Expats der verschiedensten Nationen an den Write-Ins und Englisch ist dann eben doch der größte gemeinsame Teiler. Schreiben kann sowieso jeder in seiner Sprache, sei das nun Züritüütsch, Englisch, Elbisch oder Farsi.

Swiss Wrimos 4NaNoWriMo hat auch Nebenwirkungen. Medizinisch kann sich der Schreibnovember in Tennisarmen und Rückenschmerzen äußern. Mein Problem war dagegen, dass ich während mehrerer Jahre am selben Roman weiterschrieb und so ein massiv zu langes Manuskript entstand. Damit war ich ein sogenannter NaNo-Rebell, da ich mich nicht an die Regel hielt, jedes Jahr einen neuen Roman in Angriff zu nehmen. 2017 leistete ich mir gar die ultimate Rebellion: Statt Wörter zu produzieren, kürzte ich das bestehende Manuskript. Die triviale Erkenntnis: 50.000 Wörter sind wesentlich schneller gestrichen als geschrieben.

Kommt bei NaNoWriMo aber auch gelegentlich etwas Publizierbares heraus? Die Website listet 484 NaNoWriMo-Romane, die seit 2003 traditionell verlegt worden sind, darunter „Water for Elephants“ von Sarah Gruen, verfilmt mit Robert Pattinson und Reese Witherspoon. Grob hochgerechnet auf die Anzahl NaNoWriMo-Gewinner sind das noch nicht einmal 0.1 %. Verlässliche Angaben dazu, wieviele NaNo-Romane mit Self-Publishing verlegt wurden und wie erfolgreich diese sind, gibt es nicht. NaNoWriMo listet lediglich deren 132, eine Zahl, die auf Rückmeldung der Autoren beruht. Ziel ist für die meisten Teilnehmer also weniger, einen ersten Entwurf für einen publizierbaren Roman zu erstellen, als „es zu schaffen“.

Der Schreibnovember taugt auch weniger, um Schreiben im Alltag zu integrieren. Da ist stattdessen Regelmäßigkeit und Ausdauer gefragt, also eher Marathon statt Sprint, und zwar vom 1. November bis 31. Oktober des Folgejahres. Trotzdem: NaNoWriMo ist verrückt, NaNoWriMo macht Spaß, und wer NaNoWriMo noch nie erlebt und durchgezogen hat, der ist um eine grandiose Schreiberfahrung ärmer.

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NaNoWriMo-Fachwortschatz

  • Planner: jemand, der den Plot seines Romans vor dem November plant
  • Pantser: jemand, der ohne Plan drauflos schreibt, „by the seat of his/her pants“, der also frei übersetzt aus dem Hosenboden heraus schreibt
  • NaNo-Rebel: jemand, der etwas anderes schreibt als einen neuen Roman, zum Beispiel an einem alten weiterschreibt, diesen überarbeitet oder ein Sachbuch verfasst
  • Write-In: Physische Schreibtreffen in einem Café, einer Bibliothek oder einer Buchhandlung
  • Word War: Zehn- bis zwanzigminütige Schreibsprints, bei denen es gilt, möglichst viel Text zu produzieren
  • Municipal Liaison (ML): Regionaler Organisator von Schreibtreffen während des Novembers. Das Jahr über organisieren die MLs auch Anthologieprojekte, Lesungen und soziale Anlässe, wie zum Beispiel die von Sabrina Haslimeier herausgegebene, dreisprachige Anthologie „WhiteBiancoWeiss“ der Swiss Wrimos, einen Ausflug in die Stiftsbibliothek des Klosters St.Gallen oder eine Mary Shelley/Frankenstein-Schiffsfahrt auf dem Zürichsee.
  • Potluck: Jeder bringt etwas, seien es kleine Preise für Word War-Gewinner oder etwas zu essen, was bei den Swiss Wrimos meist in Junkfood-Buffets ausartet
  • Box of Doom: Spezifisch von Sabrina Haslimeier für die Swiss Wrimos entwickeltes Folterinstrument in Form eines Sargs, der hölzerne Lolly-Stiele mit einer Ziel-Wortzahl enthält. Diese 100 bis über 1200 Wörter sind in einem zehnminütigen Word War zu erreichen. Wer das Ziel verfehlt, muss sich einen verrückten Hut (silly hat) aufsetzen, wahlweise Dreispitz, Hai, Qualle, Astronautenhelm, Augenklappe, Einhorn-Horn, Manga-Perücke… Als Alternative für Gemächlich-Tipper hat sich eine andere Variante bewährt: erst nach dem Schreibsprint wird ein Los gezogen, das den Gewinner bestimmt – je nachdem, ob jemand in seinem Sprint-Text eine Liebeserklärung beschrieben, einen Charakter umgebracht, eine Raumschiffbruchlandung gebaut hat oder ein Drache, Dämon oder Kaninchen mit Krätze darin aufgetreten ist.
  • TGIO-Party: Thank God It’s Over-Party, jeweils Anfangs Dezember
  • Camp NaNoWriMo: Schreibmonate im April und Juli, bei denen sich die Teilnehmer selber ein Schreibziel setzen können, seien es Zeichen, Wörter, Stunden oder Seiten. Schreibtreffen nur online.

Link NaNoWriMo: www.nanowrimo.org

Link zum Artikel von Christian Riesen (auf Englisch): What writing novels and codes have in common

 

 

Daß Eva eine Schweizerin ist, kann man aus dem Text rauslesen, nicht wahr? – Ich habe sie bei meinen Schreibcamps als sehr witzige und intelligente Autorin mit breitgefächertem Allgemeinwissen kennengelernt – und als höchst talentiert.
Das SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) vertont derzeit eine Kurzgeschichte von ihr.

Alle Photos sind ©Eva Waiblinger.

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Andi Prodehl sagt:

    Ich mag sie sehr. Und sie kann einfach klasse schreiben. Ihren Reader-Beitrag vom April 2018 hab ich geliebt. So leicht und locker, das ist echt großes Kino, so wie der Beitrag zu diesem Blog. Klasse!

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