Ich bin eigentlich ein Kind der Siebziger und der Achtziger, aber die Musik, die für mich die meiste Bedeutung hat, ist in den Sechzigern angesiedelt. Ich kann deutlich mehr über die Anfänge von The Who, Manfred Mann, Pink Floyd mit Syd Barrett, Status Quo oder The Animals erzählen als über Gruppen/Sänger, die in meinen Jugendjahren große Erfolge feierten. Wenn man mich heute nach meinen Lieblingsbands fragen würde, wären es vermutlich Herman’s Hermits oder Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich. – Du hast diese Namen noch nie gehört? Dann bist Du deutlich jünger als ich.
Aber wie kam es eigentlich zu dieser Prägung? – Nun, mich haben die Sechziger als Zeit des Aufbruchs und der Veränderung immer schon sehr interessiert. Ohne dass ich zu sagen wusste, warum. Die Erzählungen aus dieser Zeit waren für mich einfach interessanter als das, was ich als Jugendlicher erlebte. Studentenunruhen, Liberalisierung, freier Sex, Kommunengründungen, Filme wie „Easy Rider“ … Ich habe Geschichten erzählt bekommen, die im Vergleich zu dem, was in den drögen End-Siebzigern so geschah, ungleich spannender klangen.
Das musikalische Drumherum war nur ein Teil meiner Sozialisierung. Als ich Mitte der Siebziger erstmals in England war, bekam ich eine weitere Prägung. Mods, Rocker und erste Punks verprügelten sich auf den Straßen, das Swinging Young London der Sechziger war in der Mode und in der Kunst noch zu erahnen. Ich war gerade mal 13 Jahre alt und habe dieses Anderssein der Jugendkulturen in mir aufgenommen und niemals mehr wieder vergessen. England hat mich unglaublich fasziniert. Einerseits mit seiner weit zurückreichenden Geschichte, andererseits mit seiner Frische. Und natürlich war der englische Fußball für mich alles. Auch wenn ich bis dahin noch nie die Gelegenheit gehabt hatte, britischen Kickern auf die Beine zu schauen. Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.
Zurück zur musikalischen Prägung: Machen wir einen kleinen Zeitsprung vorwärts, ins Jahr 1983. Die Schule hatte ich irgendwie abgeschlossen, und neben einigen seltenen Besuchen von Vorlesungen auf der Uni Wien hatte ich einen Studentenjob in einem Lokal, das „Gschisti-Gschasti“ hieß.
(Exkurs Anfang) Muß ich dieses Doppelwort übersetzen? – Vermutlich. Man verwendet es im Wienerischen zum Beispiel als „Mach ned so a Gschisti-Gschasti drum“ oder „Des is wieder a Gschisti-Gschasti!“. Das Doppelwort beschreibt also so etwas wie „Aufhebens, Durcheinander“. (Exkurs Ende)

Das Lokal befand sich im 9. Wiener Gemeindebezirk, in einer recht schönen Ecke, die dazumals gerade aufblühte. In unmittelbarer Nähe befanden sich zwei Theater, an einem davon wurde über Jahre hinweg die Rocky Horror Picture Show gespielt. Das Gschisti-Gschasti sollte vorrangig junges Publikum anziehen und sich von den Gast- und Wirtshäusern der Umgebung deutlich abheben. Tatsächlich hatten wir ein sehr gemischtes Publikum. Polizisten saßen einträchtig mit Zuhältern und Huren zusammen, Studenten mit Arbeitern, Gut- mit Schlechtverdienenden. Die meisten Stammkunden hatten Spitznamen. Sie hießen Stocki und Petzi, Zigeuner und Russin, der Herr Graf oder Achtel-Pauli.
Beim Achtel-Pauli kann man sich denken, was sein Lieblingsgetränk war: Er gönnte sich ein Achtel Rot und dann noch eines und noch eines, bis er irgendwann einmal sturzbesoffen gegen Mitternacht ins Freie wankte, ein Taxi rief und in die Arbeit fuhr. Er war in der Druckerei der österreichischen Tageszeitung „Kurier“ angestellt und arbeitete stets in der Nacht. Achtel-Pauli hatte eine Frau, die er in seinem famosen Englisch als „my old“ vorstellte, also als seine „Alte“. Sie war eine Tranklerin (Trinkerin) wie Herr Achtel-Pauli, die beiden hatten also zumindest ein gemeinsames Thema.
Achtel-Pauli hatte eine ganz besondere Schwäche: Sobald er den ersten Liter vom Roten hinter sich hatte und seine Aussprache ein wenig undeutlicher wurde, wünschte er sich das „Sechser-Bandl“. Damit meinte er, ich sollte doch ein ganz bestimmtes Band in den Kassettenrecorder zur Musikbeschallung einlegen, und zwar das Band 6 einer Serie, die irgendjemand illegal aufgenommen hatte und die zum Musikinventar des Gschisti-Gschasti gehörte. Die Serie hieß The Roaring Sixties und war von zwei Redakteuren des Radiosenders „Ö3“ gestaltet worden, von Patrick Schierholz und von Hansi Leitinger. Die beiden hatten die Jahre 1960 bis 1969 in jeweils knapp einstündigen Radiosendungen aufgearbeitet. Nicht nur in musikalischer Hinsicht; es wurde über Zeitgeschichte, Kunst, Kultur, Sport, Drogen, Minirock, Politik und vieles mehr geplaudert. Es war eine großartige Serie, die mir dieses ganz besondere Jahrzehnt näherbrachte. Die Musik, die ich bis dahin schon sehr gern gehört hatte, ergab, eingebettet in den zeitgeschichtlichen Rahmen, plötzlich viel mehr Sinn. Sie bedeutete manchmal Ablenkung, manchmal Veränderung, manchmal völligen Unsinn, manchmal Revolution. Ich erfuhr, was Bubblegum-Musik war und zu welcher Zeit die Stones „Street Fighting Man“ sangen. Ich lernte die Namen Berry Gordy und Jasper Johns kennen. Ich bekam Wucht und Wirkung von Beatlemania vermittelt und viele andere Dinge, über die ich vermutlich stundenlang erzählen könnte.
Das „Sechser-Bandl“, das der Achtel-Pauli so vehement forderte, kenne ich vermutlich auswendig, aber auch die Lieder und Texte der anderen neun Folgen.
Die Kassettenbänder habe ich mir, nachdem das Gschisti-Gschasti verkauft wurde, behalten, sie aber nach und nach verloren oder als Bandsalat verenden gesehen, bis nur noch drei Kassetten übriggeblieben waren. Es war, als würden mir meine Jugenderinnerungen Stück für Stück weggenommen werden …
Vor einigen Jahren dann habe ich gezielt im Wunderland des Internet nach den Aufnahmen gesucht – und sie tatsächlich wiedergefunden. Diese zehn wunderbaren Stunden Radio-Feature sind für mich ein Teil meiner Lebensgeschichte. Und nun, wenn ich sie mir etwa einmal im Monat anhöre, muss ich an den Achtel-Pauli und „his old“ denken. Und ihm dankbar sein, auch wenn er mir damals gehörig auf die Nerven ging.